C 3.2 Ergebnisse der Blickbewegungsuntersuchung

3.2 Ergebnisse der Blickbewegungsuntersuchung

Die vorliegenden Ergebnisse der Blickbewegungsuntersuchung erfordern eine aufwendige Erläuterung und Bewertung. Im Vorfeld der Ausführungen sind in anderen Zusammenhängen der vorliegenden Arbeit Einführungen und Erläuterungen zu dieser Thematik erfolgt. In Kapitel A3.3 werden u.a. die Zusammenhänge zwischen visueller Wahrnehmung, Augenbewegungen, Blickbewegungen, Aufmerksamkeit und Objektsuche dargestellt und erläutert. Besonders in den Kapitelen C1.5.1 und C1.5.2.4 werden Erkenntnisse zur Aufmerksamkeitsverteilung und zum Stellenwert der Blickbewegungen im Rahmen von Wahrnehmungsprozessen diskutiert. Insgesamt sind die Instrumente der Blickbewegungsregistrierung in unterschiedlicher Form und Technik weit verbreitet, führen aber, vor allem im Wissenschaftsbereich und wie in den aufgeführten Ausführungen dargestellt, zu kritischen Anmerkungen hinsichtlich der Bewertung der Methoden und ermittelten Ergebnissen. Insofern werden in den folgenden Ausführungen nicht nur die gefundenen Ergebnisse dargestellt, sondern darüber hinaus die eingesetzten Methoden und Verfahren sowie gegebenenfalls Einschränkungen ihrer angenommenen Funktionalität erläutert.

3.2.1 Fixationen und Sakkaden

Abbildung 32.0 zeigt, als Einführung in die Untersuchungsergebnisse, am Beispiel der Modellform Schattierung ein konkretes Blickbewegungsergebnis. Die spezielle Aufgabenstellung bei diesem Beispiel bestand für die Versuchsperson darin, sämtliche maximalen Ausprägungen des „Schattierungsreliefs“ innerhalb von 30 Sekunden auf dem Bildschirm visuell zu identifizieren. Im Betrachtungsfeld zwischen Versuchsperson und Bildschirm befindet sich ein stationäres Remotesystem mit einer Videokamera und einem Infrarotstrahler, die auf die Augen der Versuchsperson ausgerichtet sind (vgl. Abb.26.3). Durch Kalibrierung von fünf Punkten auf dem Bildschirm wird als Grundlage eine optische Beziehung zwischen Blickpunkten auf der Hornhaut und Lagepunkten auf dem Bildschirm bzw. der betrachteten Karte geometrisch fixiert. Dabei wird ein von der Infrarotlichtquelle ausgehender Lichtstrahl von der Oberfläche der Hornhaut des Auges (Cornea), die auf fixierte Punkte des Kartenbildes ausgerichtet ist, punktförmig reflektiert und von der Kamera aufgezeichnet. Da eine Bewegung des Auges auch eine Änderung des Ausfallwinkels der Reflexion bedeutet, kann aus dem Videobild die relative Distanz und Lage der Corneareflexion zur Mitte der Pupille und somit der Blickwinkel berechnet werden (Servatius 2009, S. 41Servatius, K. (2009): Dynamische Unterstützungsformen in Kartographischen Medien. In: Beiträge zur kartographischen Informationsverarbeitung, 15, Universität Trier).
Schattierung Fixationen Beispiel 3.3. Schattierung Beispiel ausschnitt

Fixationshäufungen, mehrfache Fixationen

Abb. 32.0 Beispiel: Schattierung (1 VP, 30 sek.): Blickverläufe (Sakkaden), Folge der Blickverläufe, Fixationsdauer.
Die unterschiedlich großen blauen Punkte in Abbildung 32.0 repräsentieren Blickpunkte oder Ruhepunkte des Auges als Fixationen, die zur Aufnahme von Informationen führen. Die Verbindungen der Blickpunkte repräsentieren Blickbewegungen bzw. Sakkaden. Im Wahrnehmungsprozess wird das Kartenbild am Bildschirm sukzessive visuell abgetastet und mit Hilfe der Registrierung der Blickbewegungen werden die daraus sich ergebenden Positionen, Fixationsabfolgen (Zahlangabe in den Punkten) sowie die Dauer der einzelnen Fixationen (Größe der Punkte) registriert und berechnet. Wie die Abbildung zeigt, ist eine große Anzahl von Fixationen über das Kartenbild verteilt, die allerdings in ihren Positionszuordnungen und Verbindungen nicht immer eindeutig zu interpretieren sind. Auch im Ausschnittsbeispiel fallen besonders Zusammenhänge von Fixationen auf, deren Verknüpfungen eine unterschiedliche Deutung zulassen.
Blickbew. Abb 32 Fixationsdichte 6

Abb.32.2 Blickdichteverteilung

Zur Unterstützung der Interpretation von Fixations- und Sakkadenmustern, wie sie in Abbildung 32.0 präsentiert sind, bestehen methodische und technische Möglichkeiten, ermittelte Werte durch statistische Analysen und Darstellungen in Form von bildlichen Oberflächen den Fragestellungen der Auswertungen anzupassen. Die Zusammenfassung und Interpolation von Werten und Positionen der Blickbewegungen werden dabei zu visualisierten „Blickdichteverteilungen“ verarbeitet, die die Grundlage einer visuellen Auswertung bilden können (Abb. 32.1 und 32.2). Da in der Kartographie mit Hilfe von Blickbewegungsuntersuchungen einerseits Reiz- und Aufmerksamkeitsphänomene in Kartenvorlagen erkannt und zum anderen gegebenenfalls daraus kognitive Prozesse abgeleitet werden sollen, ist es erforderlich, auch die abgebildeten „Dichteverteilungen“ durch weitere Blickbewegungsstrukturen systematisch in Beziehung zu den mit den Blicken betrachteten Kartenvorlagenstrukturen zu stellen. Die präsentierten Ergebnisse ergeben dabei erste Auswertungsmöglichkeiten, die etwa wie folgt zusammengefasst werden können:
Besonders bei den Choroplethen und den gestuften Gittersignaturen fällt auf, dass die Blicke extrem über das ganze Bild streuen. Bei der Flächendiagrammkarte häufen sich die Fixationen meist dort, wo mehrere Diagramme eng beieinander liegen. Bei Schattierungskarte und diskreter Niveauflächenkarte liegen die meisten Fixationen an den Positionen der Maximalwerte, die Verteilung ist hier wesentlich konzentrierter.

3.2.1.1 Fixations- und Sakkadenwerte

Wie oben mehrfach angedeutet, lassen sich aufgrund der digitalen Form gemessener Fixationen und Sakkaden eine große Anzahl geometrischer und zeitlicher Größen ableiten und berechnen. Für kartographische Fragestellungen stellen sich dabei hohe Anforderungen, denen z.B. im Bereich der Textanalyse oder der Werbegraphik in dieser speziellen Form vermutlich kein oder nur ein geringer Stellenwert zukommt. Besondere Anforderungen zeigen sich vor allem bei georäumlichen Elementen in Karten, die eine Auflösung von bis zu 1/10 Millimeter aufweisen und die damit teilweise unter dem Auflösungsvermögen des verwendeten Aufnahmesystems liegen. Außerdem ergeben sich spezifische topologische und euklidische Merkmale in Karten, mit deren Hilfe georäumliche Größen logisch eindeutig beschrieben werden und die mit den Blicken visuell/kognitiv aufgenommen und verarbeitet werden müssen. Diese Fixations- und Sakkadenstrukturen stellen allerdings nur einen Aspekt der Analyse von Blickbewegungsmustern dar. Ein weiterer Gesichtspunkt der Analyse ist der Zusammenhang zwischen wahrgenommenen Mustern in der Kartenvorlage und die zur visuellen Aufnahme erfolgten Blickbewegungen des Wahrnehmenden. Um die Wirkung und Aufmerksamkeitsstimulanz der erfassten optischen Kartenmuster sowie die beim Betrachter entstandenen gedanklichen Informationen empirisch zu ermitteln, muss einerseits ein Schema (Regelwerk) logisch unterscheidbarer Blickbewegungsstrukturen und andererseits ein Katalog mit ihnen zuordbaren Kriterien der Informationsbildung vorliegen. In Abbildung 32.2 ist ein formales Schema von Blickbewegungen angelegt worden, das Einheiten von Fixations- und Sakkadeneigenschaften in geometrischer, topologischer und zeitlicher Hinsicht erfasst.

Bei der Analyse der Wirkung und Funktion konkreter Modellformen, wie es in dieser Arbeit angestrebt wird, werden die im Abgleich mit den in Abb.32.2 aufgeführten Einheiten des formalen Schemas  identifizierten Ergebnisse der Blickbewegungsmessung digital gekennzeichnet, berechnet und optisch präsentiert sowie für die visuell-empirische Interpretation bereitgestellt. Dabei bestehen mindestens zwei Problembereiche, die die Interpretation erschweren. Zum einen bestehen noch keine eindeutigen Kenntnisse, welche visuell/gedanklichen Repräsentationen bei bestimmten Blickbewegungsstrukturen entstehen und damit den Einheiten eines formalen Schemas zugeordnet werden können.  Wie schon angedeutet, sind dies besonders geräumliche und geometrische Strukturen in Karten, die in dieser Form in keiner anderen Darstellungsform oder in Bildern eine vergleichbare Rolle spielen. Zum anderen muss aus wahrnehmungstheoretischer Sicht konstatiert werden, dass Blickbewegungen zwar zu gedanklichen Repräsentationen führen, es aber Einflüsse gibt, wie etwa periphere und parafoweale Effekte (vgl. Kap.1.5.2) sowie individuelles gedankliches Wissen, die bei der Informationsbildung eine zusätzliche Rolle spielen. Außerdem beeinflussen langfristig angelegte Faktoren der Wahrnehmung, wie etwa motivationale, ästhetische oder konventionelle Einflüsse, wie sie in Kapitel 1.6 dargestellt wurden, Eindrücke und Bewertungen bei der Informationsgewinnung.

Fixationen BAbb. 32.2 Formales Schema von Blickbewegungsstrukturen

3.2.1.2 Anzahl und Dauer von Fixationen

Die im Folgenden dargestellten ersten Berechnungsergebnisse, können nur begrenzt etwas über die Unterschiede in den Wirkungen und Funktionen der untersuchten Modellformen aussagen. Es ist dabei zu berücksichtigen, dass den VPn als Untersuchungsgegenstand die sieben Modellformen im Rahmen der Blickbewegungsregistrierung am Bildschirm präsentiert wurden und sie die Aufgabe haben, sich diese „Vorlagen nacheinander hinsichtlich Ihrer graphischen Struktur genau anzusehen“. Es wurden also keine konkreten Aufgaben gestellt, zu denen es erst im Rahmen der zweiten und dritten Untersuchung kommt.
Text AAAText BBBText C
Abb. 32.2 Anzahl und Dauer von Fixationen
Bei den Diskreten Niveauflächen ist die durchschnittliche Dauer einer Fixation am geringsten. Da bei dieser Modellform aber relativ lange Gesamtfixationszeiten festgestellt wurden, müssen extrem viele kurze Fixationen aber wenig lange Fixationen erfolgt sein. Die längsten durchschnittlichen Fixationszeiten ergeben sich bei den Modellformen Flächendiagramm und Schattierung.
Daraus könnten zwei Schlüsse gezogen werden. Erstens, die Modellformen Flächendiagramm und Schattierung sind so schwer zu identifizieren, dass hier längere Fixationen nötig sind, um die Modellform zu verstehen (hohe kognitive Belastung), folglich würden bei den Diskreten Niveauflächen mit mehreren kürzeren Fixationen mehr Informationen aufgenommen werden können, da die Modellform einfacher zu verstehen ist. Oder zweitens, bei den Diskreten Niveauflächen kann es aufgrund der kurzen Fixationszeiten zu keiner qualifizierten Informationsaufnahme kommen, so dass bei den Flächendiagrammen und der Schattierung mehr Informationen aufgenommen werden.
Statistik

Tab. 32.1 Fixationsanzahl und Verteilung der Fixationsdauer

Die mittlere Fixationsdauer zeigt an, wie hoch der Anteil an Fixationen an der Gesamtbetrachtungsdauer einer Vorlage im Durchschnitt ist. Bei den Flächendiagrammen entfallen fast 24 von 30 Sekunden auf Fixationen, bei den Gestuften Gittersignaturen nur 19 Sekunden.
Auch bei der Fixationsdauer gibt es große Unterschiede zwischen den Versuchspersonen. Bei VP 1 und 5 sind die Streuungen sehr groß, bei VP 4 verhältnismäßig gering.

3.2.1.3 Fixationslängenverteilung

Bei einer Fixationsdauer von 60 – 100 ms wird von “ Expressfixationen“ gesprochen.,Hier können bereits Informationen aufgenommen werden. Bei einer Dauer von 100 – 300 ms spricht man von „Suchfixationen“ bzw. „Orientierungsfixationen“ und erst bei einer Dauer >300 ms von „Verarbeitungsfixationen“.

Für die Berechnung wurden die Fixationen der einzelnen Versuchspersonen analysiert und gemittelt. Zunächst wurden nur die Absolutwerte berechnet. Da aber die Anzahl von Fixationen sowohl innerhalb der Testvorlage als auch innerhalb der Versuchspersonen stark schwankt werden diese Werte normiert (Normierte Fixationslänge: Anzahl Expressfixationen/Gesamtanzahl Fixationen * 100 usw.)

FixationslängenverteilungAbb. 32.3 Verteilung von Fixationslängen Statistik aExpress-, Such-, Orientierungs- und Verarbeitungsfixationen
  • Flächendiagramme und Schattierungen haben den geringsten Anteil an Expressfixationen und den höchsten Anteil an Verarbeitungsfixationen.
  • Die beiden Niveauflächen und die Gestuften Gittersignaturen haben den höchsten Anteil an Expressfixationen und einen geringen Anteil an Verarbeitungsfixationen.
Ein hoher Anteil an Express- und Suchfixationen und ein geringer Anteil an Verarbeitungsfixationen deuten darauf hin, dass die Aufgabenbearbeitung eher unstrukturiert ablief. Da jedoch keine konkrete Aufgabe gelöst werden musste, ist dies nicht weiter verwunderlich. Weiterhin könnte daraus geschlossen werden, dass Informationen eventuell aus dem peripheren Sehfeld aufgenommen wurden.

3.2.1.4 Interfixationen (Sakkaden)

Sie geben die Abstände in ms zwischen dem zeitlichen Ende und dem Beginn der folgenden Fixation an und werden als Ersatz für Sakkadenlängen berechnet.

Abstände über 500 ms wurden aus den Rohdaten entfernt, da diese Abstände unwahrscheinlich sind und auf Registrierungsprobleme schließen lassen (z.B. durch Lidschläge, Kopfbewegungen)

Interfixationen A Interfixationen AStreuungsbereich von Intefixationslängen in ms
Abb.32.4 Mittlere Interfixationslängen in ms und Streuung (Max- Min)
Bildschirmdistanz pro 20 smWerte zur Bildschirmdistanz
Abb. 32.5 Zurückgelegte Bildschirmdistanz (ms; Mittel 7 VPn)
Die Abb. 32.4 zeigt die mittleren Interfixationslängen als Säulen und die Streuung in Form von Maximalwert- und Minimalwertlinien. Die niedrigsten zeitlichen Abstände zwischen Fixationen sind bei den Flächendiagrammen zu finden, die längsten Abstände bei Isarithmen, Gestuften Gittersignaturen und Stetigen Niveauflächen. Generell schwanken die Werte zwischen den Modellformen aber um weniger als 20ms.Es wird davon ausgegangen, dass je schwieriger und komplizierter eine Testvorlage ist, desto kürzer werden die Abstände zwischen Fixationen.
Die durchschnittliche, gesamte zurückgelegte Bildschirmdistanz ist ebenfalls bei der Modellform Flächendiagramm am geringsten und bei der Choroplethen am höchsten (Abb. 32.5). Dies korreliert auch mit der Feststellung, dass in Kartenvorlagen die Blicke bei Choroplethen mehr streuen.
Dies könnte folgendermaßen gedeutet werden:

  • Die zurückgelegte Strecke könnte ein Maß für die Strukturiertheit der Aufgabenbearbeitung sein. Je länger die Strecke ist, desto unübersichtlicher ist der Blickverlauf, je kürzer er ist, desto strukturierter und konzentrierter ist er.
  • Je länger die Strecke ist, desto mehr Orte der Karte wurden betrachtet, je kürzer sie ist, desto mehr Bereiche der Karte wurden vernachlässigt.
  • Dies könnte auch ein Maß für den „Entropiegrad“ (vgl. A Kap. 5.3.2) der Modellform sein: Je länger eine Strecke ist, desto komplexer ist die Karte.