4. Wirksamkeit von Informationsmustern (Untersuchung U2)

4. Wirksamkeit von Informationsmustern (Untersuchung U2)

In der folgenden Untersuchung U2 werden grundlegende Aspekte der visuell-kognitive Verarbeitung von inhaltlichen Kartenmekmalen diskutiert und empirisch analysiert. Im Gegensatz zur Untersuchung U1, bei der sich Fragen und Aufgaben allein auf die graphischen Kartenmerkmale der sieben vorgegebenen  Modellformen beziehen, werden bei der  Untersuchung – U2 – die Wirkung und die Reaktionen auf ein vorgegebenes inhaltliches Thema mit explizit gestellten Aufträgen und Fragen ermittelt.
Aufgrund der Vielschichtigkeit der folgenden Untersuchung hinsichtlich inhaltlicher Fragestellungen und der Komplexität erforderlicher Methoden und Verfahren werden die Ausführungen durch zwei aktuelle Problembereiche eingeleitet:

  • Kartengraphik und rambezogene Kommunikation (4.1)
  • Modell räumlicher Blickbewegungsanalyse (4.2)

4.1  Kartengraphik und raumbezogene Kommunikation

Seit dem Jahr 2019 haben sich im Rahmen der Corona-Pandemie im Zusammenhang mit der weltweiten Medien- und Kartennutzung interessante kommunikative Erscheinungen gezeigt. So sind mit einem neuen Selbstverständnis kartographische Medien im Fernsehen, dem Internet und in vielen Printmedien, täglich aktualisiert, weltweit zu beobachten. Es zeigt sich im Laufe der bisherigen Entwicklung der Coronasituation eine Zunahme an öffentlichen Konferenzen und Debatten, die sich in der Regel auf eine weiterentwickelte und komplexere georäumliche Daten- und Faktenlage stützt. Diese Situation, ausgehend von einer Zunahme diskutierter Probleme und Fragestellungen, führt zu einer Präsentation von vernetzten Medien mit interaktiven und häufig dynamischen Karten, Tabellen sowie statistischen und bildlichen Graphiken
Eine weitergehende und fundiertere Analyse der sich entwickelnden Coronasituation, vor allem begleitend und vertiefend mit graphischen Präsentationen, ist in der Öffentlichkeit, zumindest in Deutschland, nur in geringem Maße zu beobachten. Für die aktuelle mediale Situation zeigte sich bisher, dass die aus fachlicher Sicht veröffentlichten relativ einfachen kartographischen Sachverhalte vor allem mit Hilfe von zwei unterschiedlichen Modellformen bzw. Kartenkategorien (Choroplethen und Flächendiagramme) visualisiert werden. Inwieweit mit Hilfe dieser Modellformen aber die jeweiligen Informationen und die sie repräsentierenden gesellschaftlichen Sachverhalte tatsächlich vermittelt werden können, lässt sich, abgesehen von den eher medialen Aktionen, wie sie im folgenden Kapitel am Beispiel gezeigt werden, noch nicht deutlich erkennen. Es wäre sicherlich eine interessante Aufgabe, den umfangreichen weltweiten Einsatz von kartographischen Medien, medien- und  kulturwissenschaftlich zu untersuchen, da  bisher noch nicht ausreichend deutlich wird, in welchem Umfang bei interessierenden Mediennutzern mit den angebotenen Visualisierungsformen ein anhaltendes Interesse geweckt wird und die angebotenen Informationen tatsächlich aufgenommen und verarbeitet werden.

 4.1.1 Wirksamkeit von Kartengraphik

Im angedeuteten Zusammenhang haben sich vereinzelt mediale und politische Sprach- und Argumentationsformen ergeben, bei denen unmittelbar auf präsentierte und wahrgenommene Kartenszenen Bezug genommen wird. So wurde beispielsweise im Rahmen von Fernsehdiskussionen zur Corona-Pandemie mit einer „starken Zunahme von roten Flächen“ argumentiert und von einer „deutlichen Trennung von hellen und dunklen Farbbereichen“ (vgl. Abb.4.1). gesprochen oder ein mahnender Hinweis artikuliert: „Man sieht doch, wie die Landkarten sich rot einfärben!!“.

Abb. 4.1 Eine deutliche visuelle Zuordnung und Trennung von Farbtönen – Corona-Neuinfektionen je 100 000 Einwohner in den Kreisen im Zeitraum der letzten 7 Tage; Nov. 24.11.2021. (Quelle: Graphik: t-online.de; Daten: Robert Koch-Institut).
Dabei wurde nicht explizit auf konkrete Karten hingewiesen oder entsprechende Karten gezeigt. Es wurde vorausgesetzt, dass sich die Zuhörer oder das Publikum bereits im Voraus mit entsprechenden Karteninhalten informieren und gleichfalls die geographische Gliederung der Infektionssituation in Deutschland mit Hilfe von Farben verinnerlicht haben  und damit der entsprechenden „graphischen“ Argumentation folgen können. Zusätzlich sollte wohl mit der Betonung der genannten Aussagen auf den bedrohlichen Zustand der Pandemie extra hingewiesen  und durch Ausweisung der Symbolkraft der entsprechend bekannten Kartenszenen eine entsprechende Verständnisbildung unterstützt werden.
Dieses Szenarium zeige, dass sich aufgrund von expressiven kartographischen Reizstrukturen ein deutliches visuelles Einprägen und Verknüpfen von repräsentierten graphischen Merkmalen ergeben kann, die im Rahmen des zugehörigen Kommunikations- und Handlungszusammenhangs sogar zu einer eindrucksvollen Symbolbildungen der Kartengraphik führen. Damit wird einerseits die Funktion von Karteninhalten in wichtigen Handlungszusammenhängen deutlich, zum anderen aber gezeigt, dass der Kartengraphik eine selbständige Vermittlungsfunktion zukommen kann.

4.1.2 Modellformen als Kommunikationsfaktor

Im Fall des genannten Corona-Ereignisses werden weltweit zumeist die Modellform Choroplethen für die Abbildung von  Relativdaten (Infektionen pro 100 000 Einwohner) und Flächendiagramm für Absolutdaten (Anzahl infizierter Einwohner) verwendet. Es stellt sich danach die Frage, inwieweit bei diesem kommunikativen Zusammenhang die konstruktive und graphische Form der beiden Modellformen eine besondere Rolle gespielt haben. Bei der Modellform Choroplethen ist die visuell-räumliche Erfassung von Informationswerten in Verwaltungseinheiten (z.B. „Landkreisen“) dadurch gekennzeichnet, dass der gesamten Ausbreitung der einzelnen Flächen ein statistischer Sachverhalt („Infektionswert“) zugeordnet ist und gleichzeitig dieser Sachverhalt durch einen die Fläche vollständig ausfüllenden Farbton kenntlich gemacht wird (siehe Abb. 4.1). Die genannte „visuelle Trennung“ von Bereichen mit hohen und eher niedrigen Infektionszahlen ergibt sich aus der „visuellen Verbindung“ von räumlich zusammenliegenden Flächen mit gleichen oder verwandten Farbtönen und durch die unmittelbare geometrisch-räumliche Verknüpfung dieser Flächen.
Besonders in Teil B dieser Arbeit, Kap. 2.2 und 2.3, ist der kartographische Wahrnehmungsprozess als ein „spezifischer oder unverkennbarer Vorgang“ beschrieben worden. Dies ist vor allem damit begründet, dass die georäumlichen Faktoren von Karten einen ganz eigenen Aspekt der Informationsgewinnung darstellen und in jeder gewonnenen Information explizit oder implizit zum Tragen kommen. Dabei spielen in Wahrnehmungs- und Einprägungsvorgängen, wie häufig beschrieben, zwei spezifische Faktoren von Graphikelementen, vor allem bei sogenannten Thematischen Karten, eine Rolle:
  • Zum einen sind dies, entsprechend der Theorie der Graphischen Variablen, Unterschiede und Abstufungen von Kartenzeichen, die bei der meist spontanen Ableitung von Farben, Helligkeiten, Formen, Größen und Auflösungen gedanklich zur Wirkung kommen. Sie bilden die Voraussetzung, um mit Hilfe einer Legendenzuordnung repräsentierte Wertkategorien und Wertrelationen unterscheiden, bewerten und vergleichen zu können.
  • Zum anderen spielen spezifisch graphische und konstruktive Bedingungen von Kartenmustern eine Rolle. Sie ergeben sich aus der konstruktiven Struktur der Kartographischen Modellformen und Karten auf der Basis ihrer räumlichen Daten, die insgesamt durch verschiedene Objektgrundrisse, Konstruktionsformen, Zeichenformen, -ausdehnungen und -schichtungen gekennzeichnet sind. Diese führen, meist unbewusst, zu Wahrnehmungsvorgängen, die sowohl den ersten Reizeindruck als auch den Prozessablauf der Informationsableitung insgesamt beeinflussen.
Beide Faktoren bilden die Grundlage für die Konzeption und Konstruktion von Kartographischer Modellformen. Bei jeder Umsetzung der Modellformen in konkrete Karten kommt beiden Aspekten aufgrund der spezifischen Form des Kartengerüstes ein individueller Stellenwert zu. Dabei zeigt sich die unterschiedliche Wirkung der Modellformen vor allem bei der Ableitung von Informationen im Zusammenhang mit bestimmten Nutzergruppen. Betroffen davon ist der Prozess der Informationsableitung selbst und die Bildung von Wissen in bestimmten Handlungszusammenhängen. Diese Wirkungen und Funktionen von Modellformen sind allerdings nicht Thema der vorliegenden Untersuchungen: Untersucht werden vielmehr ihre Wirkungsweisen unter vergleichbaren Bedingungen ihrer Anwendung.
Dieser pragmatische Aspekt von Modellformen wird im Rahmen der vorliegenden empirischen Untersuchungen und besonders im Rahmen der Blickbewegungsmessung möglichst neutralisiert. Zum einen werden bei den Laboruntersuchungen die äußeren Bedingungen für die Versuchspersonen konstant gehalten, das heißt, möglichst nur wenige oder keine wechselnden Einflüsse von außerhalb des Labors ermöglicht (vgl. Kap C 2.2). Zum anderen bezieht sich dieser Anspruch auch auf die Situation der Messung selbst, das heißt, gleiche technische und methodische Bedingungen zu gewährleisten, um die Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Modellformen konstant zu halten. Und drittens werden, als semantische Bedingung, die sieben Modellformen durch eine identische Kennzeichnung des Kartenthemas mit Farbtönen und Farbverläufen vergleichbar gemacht. Insofern soll theoretisch erreicht werden, dass die konstruktiven Merkmale der Modellformen als strukturelle Informationen bei den Untersuchungen zum Tragen kommen.